Wie es kam, dass sich der Lauf der Welt trotz größter Bemühungen aller doch nicht änderte

 

Während seines jährlichen Urlaubs las Herr Emm das Buch „What if…“ des amerikanischen Autors und Zeichners Randall Munroe. Darin fand man wissenschaftlich fundierte Antworten auf absurde hypothetische Fragen. Herrn Emm hatte es eine Frage besonders angetan „Was wäre, wenn alle Menschen auf der Erde gleichzeitig in die Luft sprängen“ die Antwort „nichts Wesentliches bzw. Messbares“ stellte Herrn Emm zwar kurzfristig zufrieden, dennoch ging ihm die Frage nicht aus dem Kopf.„Was aber wäre“ dachte Herr Emm „Wenn die Menschen nicht einfach gerade nach oben sprängen, sondern nach vorne?“

Herr Emm malte sich verschieden Szenarien aus. In seiner Vorstellung würde die Erde, gleich einem Teppich auf einem frisch gebohnerten Parkettboden, unter den Füßen der Menschen beschleunigt und sich, je nach Sprungrichtung, ein unterschiedlicher Effekt einstellen. Ein Sprung nach Norden oder Süden könnte kurzfristig die Erdachse in ihrer Lage verschieben, würden aber andererseits durch die Rotationskräfte erschwert. Da schien Herrn Emm ein Sprung Richtung Westen oder Osten schon zielführender, würde die Erde doch in ihrer Drehrichtung zusätzlich angetrieben oder abgebremst.

Herr Emm entschloss sich dieses Szenario weiter zu verfolgen. Ein Sprung nach Osten würde die Drehrichtung in die umgekehrte Richtung, also noch Westen beschleunigen, so wie der Teppich Richtung Fenster wegflöge, wenn Herr Emm Richtung Türe wegspränge. Ein Sprung nach Westen würde… überlegte Herr Emm während er sein lädiertes Handgelenk mit essigsaurer Tonerde behandelte und den Teppich wieder an seinen Platz zog.

Herr Emm las in der Fachliteratur zuerst die Drehrichtung der Erde nach und entschied danach, dass der Sprung gen Westen zu erfolgen habe damit die Erde schneller werde. Als moderner Mensch war er zukunftsorientiert und wollte zudem nicht als Ewiggestriger gesehen werden. Herr Emm nutzte die sozialen Medien um sich eine kleine Gefolgschaft aufzubauen mit der er seinen Plan diskutierte.

Als die Community eine kritische Masse überschritten hatte ging die Sache wie man so schön sagt viral und Herr Emm sah sich genötigt regionale Untergruppen zu autorisieren und auch die Bildung von Unter-Untergruppen. Als er so großen Zuspruch sah war er sicher, dass es gelingen würde.

Herr Emm lernte App-Programmierung und sah sich mit einer zunehmenden Zahl von Sponsor-Anfragen konfrontiert die er auch gerne honorierte, des Honorars wegen und weil er wusste, wie schnelllebig Internetruhm war. Gleichzeitig sah auch die Welt einen Anstieg der Verkaufszahlen für Handys, astronomischen Büchern, astrologischen Büchern, Klopapier und vielen anderen Dingen. Herr Emm hatte einen weltweiten Wirtschaftsaufschwung ausgelöst und allen ging es wohl ein bisschen besser.

Herr Emm hatte aber das Ziel nicht aus den Augen verloren und er wusste das der Zeitpunkt für den großen Sprung festgesetzt werden musste damit nicht alles wieder zerbröselte und jeder seiner Wege ginge. Herr Emm überlegte, wann wohl der günstigste Augenblick wäre und kam zu dem Schluss: Vor Arbeitsbeginn in China, dadurch hätte mehr als ein Milliarde Menschen keine Ausrede mehr und der Erfolg schien ihm so am wahrscheinlichsten, dass dann bei uns noch Nacht wäre war zu vernachlässigen, weil irgendwo ist immer Nacht, dachte Herr Emm.

Jedenfalls kam der Sprungtermin immer näher. Wenige Minuten vor dem Absprung wagte Herr aus dem Fenster zu blicken und was sich vor seinen Augen auftat war überwältigend. Die Straße vor seinem Wohnhaus war von den Handybildschirmen hell erleuchtet, überall waren die Menschen auf dem Sprung. Man zählte wie aus einem Munde 10..9..8…7..6..5..4..3…2…1 uuund SPRUNG und alle sprangen nach vorne. Auf den Bildschirmen leuchtete die programmierte Dankesnachricht. Dann wurden sie dunkel. Die Menschen auf der Straße wussten momentan nicht was sie jetzt tun sollten. Anfangs zögerlich, dann immer schneller bildeten sich Gruppen und Grüppchen die sich plaudernd auf den Weg machten.

Das Ereignis war noch Wochen in aller Munde. Praktisch die gesamte Menschheit hatte den Sprung gemacht, war für einen kurzen Moment vereint bevor jeder wieder seiner Wege ging.

Das trieb Herrn Emm Tränen der Rührung in die Augen, die aber schnell wegblinzelte um zu überprüfen, ob die Erde schneller geworden wäre.

Nun ist es so, dass die Welt ja von Satelliten für die GPS-Navigation umkreist wird und sich diese Satelliten immer wieder zueinander neu positionieren müssen und sie dann mit sich selbst beschäftigt sind und für den winzigsten Bruchteil einer Sekunde nicht auf die Welt schauen. Dies geschah just im Augenblick des großen Sprungs. Zufall oder von den GPS-Betreibern gesteuert, wie schon bald die Verschwörungstheoretiker mutmaßten, jedenfalls konnte durch die Repositionierung der Satelliten eine Auswirkung des Sprungs auf die Rotation der Erde nicht nachgewiesen werden.

Herr Emm war nur kurz traurig und freute sich am Gemeinschaftserlebnis und dass jeder Mensch von nun an die Frage „Wo warst du…?“ nicht mehr automatisch mit 9/11 verbinden würde, sondern mit einem Ereignis an dem alle teil hatten. Das war doch auch schon was.

So kam es, dass sich der Lauf der Welt trotz größter Bemühungen aller doch nicht änderte.

 

 

© Martin Siegel, 2020. Namen, Orte und Handlung sind frei erfunden und entbehren jeder wissenschaftlichen Expertise und Überprüfung. Das Buch „What If…“ von Randall Munroe ist auch auf Deutsch im einschlägigen Handel erhältlich.

Erstveröffentlichung auf Literarisches Geflüster am 18. März 2020

 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie es kam, dass Herr Emm eine Bierausschank eröffnete

Wie es kam, dass Claus Peymann sich eine Hose kaufen musste und anschließend mit Thomas Bernhard essen ging

Wie es kommen wird, dass Herr Emm mit dem Streifenwagen nach Hause fahren und im Anschluss für geizig und ungesellig gehalten werden wird